Weil in China lange nur Männer Lesen und Schreiben durften, haben Frauen vor 400 Jahren eine Geheimschrift erfunden. Jetzt entdecken sie jungeChinesinnen wieder.
Es sind Jahrhunderte alte, geschwungene Schriftzeichen, die eine Lehrerin in Jiangyong im Süden Chinas zu Papier bringt. Sie schreibt Nüshu – eine traditionelle Geheimschrift von Frauen, die heute unzählige junge Chinesinnen begeistert.
Die Schrift entstand vor rund 400 Jahren, als Frauen in Jiangyong noch nicht zur Schule gehen durften. Lesen und Schreiben blieb den Männern vorbehalten – bis Frauen heimlich chinesische Schriftzeichen lernten und daraus ihre eigene Schrift entwickelten. Sie nutzten Nüshu, um in Briefen, Liedern und Stickarbeiten geheime Botschaften zu übermitteln.
Schrift ging nur an Töchter und Enkelinnen weiter
Über die Jahrhunderte reichten Frauen in der abgelegenen Region in der Provinz Hunan die Schrift an ihre Töchter und Enkelinnen weiter. Für die 21-Jährige Pen Shengwen ist Nüshu noch heute ein „Zufluchtsort“, ein sicherer Kommunikationsweg unter Frauen. „Wir können unsere Gedanken äußern, uns unseren Schwestern anvertrauen und über alles sprechen.“
In Nüshu erinnern Wörter an Weidenblätter, sie sind schmaler und weniger eckig als chinesische Schriftzeichen. „Beim Schreiben muss man ruhig atmen, nur dann bleibt die Schreibfeder gleichmäßig“, sagt Pan.
Links die Nüshu-Schrift im Vergleich zu traditionellen chinesischen Schriftzeichen
Ihre Mitschülerin He Jingying verbindet „ein tiefes Gefühl der Ruhe“ mit der alten Geheimschrift. „Es fühlt sich an, als würde eine Stärke durch den Körper fließen, wenn die Feder das Papier berührt“, erzählt die Studentin, die von ihrer Mutter zum Nüshu-Kurs angemeldet wurde.
Die Schrift ist über die Heimat der beiden Studentinnen hinaus längst zum Trend geworden. Im Online-Dienst Xiaohongshu finden sich unzählige Beiträge junger Frauen, die Nüshu in Tattoos und Kunstwerken zeigen. Der entsprechende Hashtag wurde bereits mehr als 73 Millionen Mal aufgerufen, obwohl Nüshu im regionalen Dialekt gelesen wird, für Chinesinnen aus anderen Landesteilen ist die Schrift schwierig zu lernen.
Regierung in China ernannte „Erbinnen“ der Schrift
Lehrerin He Yuejuan führt die Begeisterung auf die Eleganz und Seltenheit der Schrift zurück. Sie selbst stammt aus Jiangyong, Nüshu begleitet sie seit ihrer Kindheit. He zählt zu zwölf von der Regierung ernannten „Erbinnen“ der Schrift und darf sie unterrichten. In ihrem Atelier verkauft sie Ohrringe und Tücher mit Nüshu-Aufdrucken.
Für die Wissenschaftlerin Zhao Liming ist die Schrift ein Zeugnis des Lebens der Frauen im ländlichen China. „Es war eine von Männern dominierte Gesellschaft“, sagt die Professorin der Universität Tsinghua in Peking, die Nushu seit 40 Jahren erforscht. „Mit Nüshu haben die Frauen gegen diese Ungerechtigkeit aufbegehrt.“
Diese Geschichte begeistert auch rund hundert junge Chinesinnen und Chinesen, die eine Autostunde von Jiangyong an einem einwöchigen Nüshu-Workshop teilnehmen. Eine von ihnen ist Zou Kexin, die online auf die Schrift gestoßen ist und die Schriftzeichen nun selbst lernen will. „Es ist ein einzigartiges Schriftsystem, das den Frauen gehört“, sagt die 22-Jährige. „Das macht es wirklich besonders.“