Von Hund und Stock zu KI-Anwendung und VR-Brille: Vor 100 Jahren wurde der Blinden- und Sehbehindertenbund Hessen gegründet. Was sich seither verändert hat, nennt ein Betroffener „eine Revolution“.
Smartphone, Sprachsteuerung, VR-Brillen, KI-Anwendungen: Dank digitaler Technik ist das Leben blinder und sehbehinderter Menschen heute um einiges leichter als vor 100 Jahren. 1925, als der Blinden- und Sehbehindertenbund in Hessen (BSBH) gegründet wurde, gab es gerade mal Stöcke, Hunde und die Brailleschrift, wie Betroffene berichten.
Karl Matthias Schäfer ist 58 Jahre alt und von Geburt an blind. Er kann sich lebhaft an die Einschränkungen in seiner Kindheit erinnern. Zu lesen gab es nur, was andere – oft Kirchen – für wert befunden hatten, in Blindenschrift gedruckt zu werden, „und das war nicht unbedingt das, was man als Jugendlicher so lesen will“, sagt er.
Im Studium, Mitte der 1990er Jahre, erlebte Schäfer „die erste Revolution“, wie er es heute nennt: ein Scanner und eine Software, die Texte in Blindenschrift umwandelte. Vorher waren blinde Studierende auf bezahlte Vorlesekräfte angewiesen, die die Studieninhalte teils auf Kassette aufnahmen,
Der Blinde ist im Urlaub für Navigation zuständig
Die zweite Revolution waren Schäfer zufolge Internet und Smartphone: „Zum ersten Mal hatten Blinde Zugriff auf alles Wissen.“ Je besser und kleiner die Technik wurde, desto nützlicher wurden iPhone und Co für Menschen mit Sehbehinderung. „Das Smartphone ist heute das wichtigste Hilfsmittel, das wir haben“, sagt der Vater zweier Kinder. „Im Urlaub mit meiner sehenden Frau bin ich für die Navigation zuständig.“
„Revolution Nummer drei hat gerade begonnen“, sagt Schäfer: Künstliche Intelligenz (KI). Schäfer scannt mit der Handykamera Briefe und Rechnungen zu Hause oder Plakate und Schilder unterwegs und lässt sie sich vorlesen. Er fotografiert seine Umgebung und bittet eine KI, ihm das Bild zu beschreiben: „Vor Ihnen sitzt eine Frau mit dem Block auf dem Schoß“, beschreibt eine Computerstimme die Interview-Situation.
Eine Brille, die filmt und kommentiert
Schäfer setzt eine dickrandige schwarze Brille auf. Im Rahmen sitzt eine Kamera, ein Lautsprecher im Bügel beschreibt, was die Kamera sieht. So richtig zufrieden ist Schäfer mit dem Ding noch nicht. Seine jahrzehntelange Erfahrung und seine geschärften Sinne sind – noch – schneller als die Technik.
Natürlich gibt es auch eine Kehrseite. Ja, die Technik ermöglicht Teilhabe, aber man muss auch willens und fähig sein, sich mit all dem zu beschäftigen. „Man muss schon Technik-affin sein“, gibt Schäfer zu, der früher Geschäftsführer eines Museums war, heute in der IT arbeitet und stellvertretender Vorsitzender des BSBH ist.
Problem Touchscreen
Zweites Problem ist, dass heute sehr viel über Touchscreens gesteuert wird. In seinem eigenen iPhone ist das für Schäfer kein Problem, er wischt und tippt sich blitzschnell durch die Apps, diktiert und lässt sich bei Bedarf eine Braille-Tastatur einblenden, die er blind bedienen kann. Das funktioniert aber nicht mit dem Kochfeld des Induktionsherds, dem Bestellterminal an der Autobahnraststätte und vielen anderen Touchscreens im öffentlichen Raum.
Schäfer sieht auch die Gefahr, dass mit der Zeit Fähigkeiten verloren gehen, die Blinde früher erlernen mussten, um zurechtzukommen. „Ich habe noch gelernt, Kreuzungen „auszulauschen“ als Ampeln noch keine Geräusche machten.“ Spätere Generationen könnten vielleicht zu sehr von der Technik abhängig sein.
Es sind nicht weniger Menschen blind, aber andere
Laut Statistischem Landesamt lebten Ende 2024 in Hessen 23.540 Schwerbehinderte, bei denen Blindheit oder Sehbehinderung die schwerste Behinderung war. Gravierend habe sich die Zahl der Betroffenen in den vergangenen hundert Jahren nicht verändert, sagt BSBH-Geschäftsführer Florian Schneider, nur verschoben.
Seltener als bei der Gründung 1925 sind von Geburt an blinde Menschen wie Schäfer: Dank des medizinischen Fortschritts seien die meisten Ursachen dafür heute heilbar. Auch Kriegsblinde gibt es kaum noch. Dafür nehme die Zahl der Menschen mit altersbedingten Sehbehinderungen zu, was vor allem auf die höhere Lebenserwartung zurückzuführen ist.
Ausstellung zur Entdeckung des Unsichtbaren
Der hessische Landesverband hat heute 1.600 Mitglieder. Der Verein versteht sich als Selbsthilfeorganisation und Interessenvertretung für blinde und sehbehinderte Menschen. Er berät Betroffene und Angehörige bei Fragen wie Mobilität, Technik und sozialrechtliche Ansprüche. Der Vorteil: „von Betroffenen für Betroffene“, sagt Schneider.
Damit sich Sehende einfühlen können, wie es ist, blind zu sein, gibt es das „Dialogmuseum“ in der B-Ebene der Frankfurter Hauptwache. Zu sehen gibt es dort unter anderem „Dialog im Dunkeln – eine Ausstellung zur Entdeckung des Unsichtbaren“. Blinde und Sehbehinderte führen dabei Kleingruppen durch lichtlose Themenräume. Das Museum hat pro Jahr knapp 48.000 Besucher.
Im Jubiläumsjahr läuft dort noch bis Ende der hessischen Schulferien eine Ausstellung, die über 100 Jahre BSBH informiert und erklärt, wie sich das Leben für Betroffene seither verändert hat. Beim Gang entlang des Zeitstrahls kann man die Vereinsgeschichte ertasten, hören, fühlen und schmecken. Ein Blindenstock, ein Hundegeschirr und eine Braille-Schreibmaschine sind dabei – aber auch das erste iPhone und eine VR-Brille.