Martin Werding: „Die Reichen können die Milliardenlöcher im Sozialstaat nicht stopfen“

Ob bei Rente, Kranken- oder Pflegeversicherung: Der Sozialstaat steht vor finanziellen Schwierigkeiten. Ökonom Martin Werding fordert Reformen, die nicht allen gefallen.

Herr Werding, der Kanzler sagt: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ Stimmt das überhaupt? 
Nein, so stimmt das nicht. Wir kommen noch über die Runden, müssen also keine Katastrophenszenarien malen. Aber wir stehen unter enormem Druck, und dieser Druck wird in den nächsten zehn Jahren noch deutlich zunehmen. Insofern: Wörtlich genommen hat der Kanzler nicht recht, aber die Diskussion ist angebracht.

Was ist denn überhaupt das Problem, wenn der Sozialstaat so groß ist? 
Das Problem ist, dass unser System überwiegend über das Umlageverfahren finanziert ist: Die Erwerbstätigen finanzieren die Leistungen für die Älteren, speziell bei Rente, aber auch bei Kranken- und Pflegeversicherung. Es gibt aber immer mehr ältere Menschen, die weniger oder nichts einzahlen, aber mehr Leistungen in Anspruch nehmen. Das ist, als wollte man mit Verbrennungsmotoren den Klimawandel bewältigen: Umlage und demografische Alterung passen einfach nicht zusammen. Aber wir werden das System nicht einfach umstellen können, wir müssen es anpassen, um über die nächsten zehn Jahre Druck rauszunehmen. 

Was müsste passieren, um das Rentensystem zu stabilisieren? 
In der Rentenversicherung hat der Sachverständigenrat im Herbst 2023 zwei Hauptursachen identifiziert: die steigende Lebenserwartung und die gesunkenen Geburtenzahlen. Die passende Stellschraube ist eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze, gekoppelt an die Lebenserwartung. Das hilft aber nur langfristig. Für den stärkeren demografischen Druck durch niedrige Geburtenzahlen gibt es im Umlagesystem selbst keine Stellschraube. Deshalb müssten wir die ergänzende Kapitalbildung hochziehen.

Ein Revival von Christian Lindners Generationenkapital? 
Nein, das bringt nichts. Was wir brauchen, sind echte Rücklagen, die für die Rente eingesetzt werden können. Das kann im Rentensystem geschehen, indem man die Beitragszahlungen anlegt. Aber das ist politisch riskant, weil solche Rücklagen zweckentfremdet werden können. Deshalb wäre es besser, die betriebliche Vorsorge auszubauen und die Bedingungen so zu verbessern, dass mehr Menschen profitieren, gerade auch mit mittleren und niedrigen Einkommen. Auch ein neues, staatlich gefördertes Produkt für die private Altersvorsorge wäre sinnvoll – ohne die Fehler von Riester, also mit weniger Regulierung, höheren Renditen und niedrigeren Kosten. 

Das wäre außerhalb der gesetzlichen Rente. Was lässt sich innerhalb noch tun? 
Der Aufwuchs der Renten müsste begrenzt werden, dafür gab es den Nachhaltigkeitsfaktor, der soll aber abgeschafft werden. Alternativ könnte man die Rentenhöhe an die Inflation koppeln statt an die Löhne.

Jetzt gehen die Boomer in Rente und bescheren uns diese Probleme. Das ist irgendwann wieder vorbei. Könnte man die Zeit nicht aus dem Haushalt überbrücken? 
Das geht nicht. Erstens gibt es im Bundeshaushalt keine Spielräume. Zweitens ist die demografische Alterung kein temporäres Phänomen. Der Altenquotient – das Verhältnis der über 65-Jährigen zu den 20- bis 64-Jährigen – steigt durch den Renteneintritt der Boomer bis 2035 stark an. Aber auch danach bleibt er auf einem Hochplateau. Im günstigsten Fall bleibt der Altenquotient konstant, im weniger günstigen steigt er. Das ist dauerhaft.

Ein anderer Vorschlag zur Entlastung ist, dass auch Beamte in die Rente einzahlen müssen. Was halten Sie davon? 
Beamte zahlen bisher keine Beiträge, erhalten aber auch keine Leistungen. Wenn man sie einbezieht, fließen zwar vorübergehend mehr Beiträge. Die Mittel fehlen dann aber bei Ländern und Gemeinden, dort sind die meisten Beamten angestellt. Politisch wäre es vielleicht sinnvoll, aber für die Rentenfinanzen bringt es nichts. 

Unsere Gesundheitsausgaben sind die zweithöchsten der Welt, die Qualität rechtfertigt das nicht

Die Privilegien der Beamten sind auch an anderer Stelle Thema: Ist es zeitgemäß, dass sie privat krankenversichert sind? 
Im Gesundheitsbereich ist das System etwas anders, weil wir einkommensabhängig Beiträge einsammeln, aber allen im Wesentlichen die gleichen Leistungen bieten. Wenn eine Gruppe – wie die Beamten – nicht einbezogen ist, ist das systemisch nicht ganz stimmig. Aber das Nebeneinander von gesetzlicher und kapitalgedeckter privater Krankenversicherung aufzulösen, hätte auch Nachteile. Wir müssten also auch hier eher die Ausgaben verringern, als zu überlegen, wo wir noch neue Einnahmen herbekommen. Die Ausgaben wachsen schneller als die Lohnsumme und das Bruttoinlandsprodukt. 

Die Krankenkassen verschwenden Geld? 
Ja, es gibt große Ineffizienzen in der deutschen Krankenversorgung. Wir haben zu viele Arzt-Patienten-Kontakte, zu viele Krankenhausbetten. Unsere Gesundheitsausgaben sind die zweithöchsten der Welt, aber die Qualität rechtfertigt das nicht. Das ist eine Chance: Statt Leistungen zu kürzen, müssen wir „nur“ die Effizienzreserven mobilisieren.

Wie ließe sich das umsetzen? 
Beispiel Krankenhausreform: Seit 20 Jahren ist bekannt, dass wir zu viele kleine, schlecht ausgestattete Krankenhäuser haben. Die Bundesländer reden aber entscheidend mit – und sind schwer für Reformen zu gewinnen. Die Lauterbach-Reform wird die Qualität vielleicht verbessern, aber eine breite Schließung von Kliniken, um Ressourcen und Personal besser zu bündeln, ist nicht zu erwarten. 

Der dritte große Brocken ist die Pflegeversicherung. Was ist da das Hauptproblem: Die Demografie oder auch die Ineffizienz? 
Beides noch nicht. Die demografische Alterung wird erst in den nächsten Jahren richtig zuschlagen, wenn die Babyboomer ins Pflegealter kommen. Bisher treiben vor allem Leistungsausweitungen die Kosten. Die Pflegeversicherung war als Teilversicherung konzipiert, aber die Politik hat viele Leistungen draufgepackt.  

Das wurde gemacht, weil sich viele Senioren Pflege kaum leisten können.
Es gab echte Verbesserungen, etwa dass Demenzerkrankungen einbezogen wurden. Aber viele Leistungen, wie etwa Unterstützung im Haushalt, könnten Betroffene oft selbst tragen. Wer es sich nicht leisten kann, bekommt Hilfe zur Pflege – eine Sozialhilfeleistung. Es droht keine massenhafte Verarmung durch Pflege. Eine Vollversicherung ist nicht nötig. 

Und der Rest soll seine Pflege aus privatem Vermögen zahlen? 
Zuerst einmal aus laufenden Einkommen wie den Renten. Wo das nicht reicht, wird natürlich auch Vermögen eingesetzt. Ich verstehe, dass Menschen ihr Vermögen vererben wollen. Aber dafür muss wirklich nicht der Staat sorgen.  

Der Umverteilungscharakter im deutschen Sozialstaat ist nicht so groß wie oft angenommen

Ein erheblicher Teil der Sozialtransfers geht an die einkommensstärkste Hälfte in Deutschland.
Wir sprechen immer über die Armen, aber eigentlich betreffen die meisten Änderungen eher Menschen, die Besitzstände haben und nicht alles vom Staat abgefedert bekommen müssen. Der Umverteilungscharakter im deutschen Sozialstaat ist nicht so groß wie oft angenommen.

Könnten Reiche nicht mehr beitragen?  
Es geht immer auch darum, Mehrheiten für Reformen zu bekommen. Deswegen können Elemente der Umverteilung Teil eines Reformpakets sein. Aber die Reichen können die Milliardenlöcher in den Sozialversicherungen nicht stopfen. Hochverdiener zahlen bereits viel in die Systeme. Und selbst wenn sie mehr zahlten, würde das nicht reichen.

Es gibt wenig Reformbereitschaft im Sozialstaat – außer beim Bürgergeld. Dabei sind die Kosten dafür sogar gesunken. Muss da überhaupt etwas passieren? 
Was die Kosten angeht, eher nicht. Da gibt es auch kein großes Potenzial für Einsparungen, die den Haushalt tatsächlich entlasten. Aber die Anreize für Mehrarbeit sollten gestärkt werden. Die Konzepte dafür sind alle bekannt, sie müssten nur umgesetzt werden.

Herr Werding, von 1 bis 10: Wie optimistisch sind Sie, dass es zu einem echten „Herbst der Reformen“ kommen wird? 
Der Herbst rückt näher, es werden auch Kommissionen eingesetzt. Aber gerade bei der Rente liegt zeitgleich ein Gesetzentwurf vor, der nicht in die Realität passt. Auf einer Skala von 1 bis 10 bin ich maximal bei 3. Da muss noch Problembewusstsein wachsen.