Ein Stein ist Bernstein nicht. Steinalt dagegen sind die Klumpen aus Harz schon. Vor Jahrmillionen quoll es aus den Rinden von Bäumen eines längst versunkenen Waldes.
Wind hat die Ostsee aufgewühlt. Es scheint, als schwebe der Bernstein über das Wasser – nicht mehr als ein Brösel, der auf den Schaumkronen gleitet und kaum auffällt. Nur manchmal blinkt er goldgelb im Sonnenlicht. Unermüdlich ziehen ihn die Wellen hinab und spucken ihn wieder aus, immer weiter an den Strand heran. Eine letzte Woge hebt ihn auf den Sand und lässt den Bernstein im schwarzbraunen Spülsaum zurück. Ein Krümel Jahrmillionen alter Geschichte, Zeitzeuge einer längst versunkenen Welt.
Europa vor 40 bis 50 Millionen Jahren: Das Klima ist tropisch-schwül. Wo heute die Ostsee liegt, erstreckt sich ein riesiger Urwald von Skandinavien bis nach Russland hinein. Dicht an dicht wachsen Kiefern und Fichten, auch Eichen und Palmen stehen zwischen den Nadelhölzern. Ein würziger Duft wabert durch die Luft. Er stammt von einem dünnflüssigen Saft, der aus den Rinden der Kiefern sickert: Harz, der Urstoff des Bernsteins.
Nur unter Luftabschluss kann sich echter Bernstein bilden
Wie das Wachs einer Kerze fließt er in kleinen Rinnsalen an den Stämmen der Bäume hinab. Sein Duft lockt Insekten an – Mücken, Fliegen und Bienen –, die zuhauf durch die warme Luft schwirren. Wie auf Fliegenpapier bleiben sie an den Kiefernstämmen kleben, sobald ihre Beinchen das Harz berühren. Wild schlagen sie mit den Flügeln, doch sie haben keine Chance: Immer tiefer sinken die Insekten in den Baumsaft, der sich über ihre Körper ergießt und sie Stück für Stück einhüllt. In Klümpchen fällt das Harz schließlich auf den Waldboden und härtet dort mit der Zeit an der Luft.
Getrocknetes Harz ist allerdings noch lange kein Bernstein. Das meiste der Millionen Tonnen, die der Urwald hervorbringt, verwittert und zerfällt. Nur unter Luftabschluss kann sich aus den Klumpen – Kopal genannt – echter Bernstein bilden. Zum Beispiel unter Wasser! Und genau das passiert, als das Meer von Westen her einen Großteil des Waldes flutet. Es wäscht haufenweise Kopal aus den Baumstämmen und drückt ihn in den Meeresboden, in tiefe Gesteinsschichten. Dort verfestigt sich der Kopal durch den Druck – und wird nach Jahrmillionen zu Bernstein.
Eine Mücke in einem Bernstein. Oft wird aus Bernstein Schmuck gemacht
Wenn nun Stürme über der Ostsee den Meeresboden aufwirbeln, wenn sich die Wellen überschlagen, gelangen die Brocken und Bröckchen wieder ans Tageslicht. Und liefern im besten Falle noch eine Momentaufnahme der Vergangenheit: Etwa in jedem 500. Fund verbergen sich unter der spröden, rissigen Verwitterungskruste jene Mücken und Fliegen, die einst im flüssigen Harz eingeschlossen wurden. Mit noch mehr Glück finden sich darin sogar Heuschrecken, Tausendfüßler, Schmetterlinge oder Eidechsen oder Teile von Pflanzen wie Samen, Pollen oder Blätter. „Inklusen“ werden sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa in der Biologie und der Geologie genannt.
Bernsteine geben Aufschluss über Naturgegebenheiten von damals
Die uralten Einschlüsse verraten ihnen, wie der Bernsteinwald einmal ausgesehen haben muss, dass es etwa tropisch-feucht, sumpfig und warm war. Denn viele der im Harz erstarrten Insekten- oder Spinnenarten leben eben nur in Gegenden, wo solche Bedingungen herrschen.
Von den weltweit rund 200 Regionen, in denen Bernstein vorkommt, sind die Ostseeküsten die reichsten Fundstätten. Noch immer keschern Bernsteinfischer und -fischerinnen allein in Litauen zwischen 300 und 600 Kilogramm davon pro Winter aus dem Meer – eine ganze Menge! Ein würfelgroßes Stück Bernstein wiegt weniger als ein Gramm. Meist sind die Funde honiggelb, orangefarben oder bräunlich. Manche Bernsteine haben aufgrund der Verwitterung eine rote Färbung, andere schimmern grünlich durch feine Sprengsel des Minerals Pyrit. Auch milchig-weiße oder -gelbe Exemplare tauchen bisweilen aus den Wellen auf. In ihnen sind unzählige winzige Luftbläschen eingeschlossen.
Doch egal, welche Farbe Bernstein hat: Das Gemisch aus Kohlen-, Sauer-, Wasserstoff und einem Hauch Schwefel fasziniert die Menschen seit jeher. Schon in der Steinzeit war Bernstein bekannt. Im alten Griechenland und im alten Rom verwendete man ihn als Schmuckstein. Nur wusste lange niemand, wo die Kostbarkeit ihren Ursprung hat.
In der Antike nannten ihn manche Menschen Luchsstein, weil sie dachten, er bilde sich aus dem getrockneten Harn des Luchses. Auch mit Ambra, das bisweilen ebenfalls an die Küste geschwemmt wird, wurde er häufig in einen Topf geworfen. Dabei ist das etwas völlig anderes: eine wachsartige Schmiere aus dem Gedärm der Pottwale. Amber, die englische Bezeichnung für Bernstein, geht auf diesen Irrglauben zurück, ebenso der französische Begriff ambre. Die Menschen im alten Rom waren schließlich auf der richtigen Fährte: Sie nannten Bernstein succinum – „Saft“. Und nichts anderes ist Bernstein schließlich: der gehärtete Saft eines Baumes, von den Wellen an den Strand gespuckt. Ein Krümel Jahrmillionen alter Geschichte.