Mit elf Jahren der erste Porno? Das ist längst Realität. Viele Eltern und Lehrkräfte sind mit dem Thema überfordert. Wie kann man Kinder und Jugendliche schützen?
Sie war Camgirl, gründete eine Agentur für Erotikmodels und ist heute dreifache Mutter. Nun fordert sie: „Pornografie gehört in den Schulunterricht.“ Vika Viktoria ist überzeugt, dass mit Kindern und Jugendlichen viel zu selten offen über Pornos gesprochen wird. Deshalb plädiert sie dafür, das Thema fest im Unterricht zu verankern. „Pornografie ist längst Teil der Lebensrealität vieler Jugendlicher. Wir können die Augen davor nicht länger verschließen“, sagt sie. Da sie bereits seit Langem in der Branche tätig ist, weiß sie, wie viel in Pornos reine Inszenierung ist. „Es ist so wichtig, jungen Menschen zu vermitteln, was echte Sexualität ausmacht und was nur gespielt ist“, erklärt sie.
Dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit Pornografie in Berührung kommen, belegen aktuelle Zahlen: Laut der JIM-Studie 2023 sind 23 Prozent der 12- bis 19-Jährigen in dem Monat vor der Befragung ungewollt mit pornografischen Inhalten konfrontiert worden. Daten der Medienanstalt NRW zeigen, dass im Jahr 2024 bereits 42 Prozent der 11- bis 17-Jährigen schon einmal Pornos gesehen haben. An der Umfrage nahmen 3000 in Deutschland lebende Kinder und Jugendliche teil. Gerade bei den 11- bis 13-Jährigen ist eine starke Zunahme im Vergleich zu 2023 zu verzeichnen. Die Daten der Medienanstalt zeigen außerdem: Der Erstkontakt findet häufig zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr statt, und den Jugendlichen fällt es schwer, das Gesehene einzuordnen.
„Kinder vor diesen Inhalten zu schützen, ist unrealistisch“
Viele Eltern möchten ihre Kinder vor diesen Inhalten schützen, erklärt Sexualpädagoge Michael Hummert. Das sei nachvollziehbar, aber unrealistisch. „Die Jugendlichen machen es dann heimlich. Anstatt das Thema zu ignorieren, sollten Eltern möglichst offen damit umgehen“, sagt er.
Doch was genau heißt offen? Hummert meint damit vor allem, ansprechbar zu bleiben. „Als Erwachsener muss man sich schon viele Jahre vor Pubertätbeginn als ernstzunehmender Gesprächspartner qualifizieren“, betont er. Seiner Ansicht nach sollten Eltern nicht warten, bis Kinder von sich aus Fragen stellen, sondern die Themen Körper und Sexualität von klein auf thematisieren. Es sei selbstverständlich, Kindern immer und immer wieder zu erklären, was im Straßenverkehr zu beachten sei, aber sobald es um sexuelle Aufklärung gehe, verstummten viele Eltern, erklärt Hummert. Das sei ein großes Problem. „Denn je leerer das Blatt ist, also je weniger Kinder und Jugendliche über Sexualität wissen, desto stärker prägt sie das, was sie in Pornos sehen“, sagt der Sexualpädagoge.
Vika Viktoria hat drei Kinder: Eines ist im Grundschulalter, eines ist ein Teenager, und das dritte ist bereits erwachsen. Mit allen spricht sie über Pornografie – altersgerecht und offen. Selbst die Freunde ihrer Kinder kommen zu ihr, wenn sie Fragen haben. Daher weiß sie, was die Jugendlichen bewegt. „Ich habe sehr viele Gespräche geführt, und sie denken wirklich, dass das, was sie dort sehen, Realität ist“, sagt die Erotikdarstellerin. „Die Jungs sind überfordert, weil sie denken, sie bräuchten einen riesigen Penis, und die Mädchen glauben, sie müssten spritzen, wenn sie kommen.“
Mehr Porno in der Schule
Ihr Sohn, der inzwischen ein junger Mann ist, habe zu ihr gesagt: „Du hast mir die Illusion von Pornos genommen. Ich schaue gar nicht mehr.“ Nicht alle Eltern seien wie sie, so Vika Viktoria. Deshalb fordert sie, Pornografie systematisch in den Schulunterricht zu integrieren. „Die Schule steht in der Pflicht, Medienkompetenz und den Umgang mit Sexualität zu vermitteln“, sagt sie. Aufklärung dürfe nicht nur biologisch erfolgen, sondern müsse auch über die Unterschiede zwischen Pornografie und echter Sexualität informieren. Die Gründerin der Camgirl-Agentur schlägt sogar vor, Menschen aus der Branche in die Schule einzuladen, damit diese aus erster Hand davon berichten. „Jugendliche hätten weniger Hemmungen, Fragen zu stellen, und würden die Informationen eher annehmen als von Lehrkräften oder Eltern“, denkt sie.
Sexualkundeunterricht mit Pornodarstellern? Sexualpädagoge Hummert kann sich das unter Umständen vorstellen, sofern die Person einen pädagogischen Hintergrund hat. „In der Grundschule können die Lehrkräfte den Aufklärungsunterricht noch gut ausführen, in höheren Klassen tun sich diese aber zunehmend schwer damit“, erklärt er. Daher seien externe Experten eine gute Alternative, meint er.
„Anstatt immer nur zu sagen, Pornos seien unrealistisch, könnte man konkreter werden und erklären, was genau unrealistisch ist und was realistisch“, sagt Hummert. „Wie viel Sperma ist bei einer Ejakulation normal? Wie lange dauert Sex? Ist ein Gummi wirklich so wichtig? Das sind Fragen, die Jugendliche beschäftigen, und wir müssen sie ihnen beantworten. Sie brauchen Handlungswissen.“ In den meisten Lehrplänen wird das Thema Pornografie nur am Rande behandelt, so Hummert. Praktische Fragen haben kaum Platz. „Das muss sich ändern“, sagt er.
Michael Hummert weiß aus seiner Arbeitspraxis, dass viele Eltern denken, Jugendliche würden heute viel früher sexuell aktiv werden – auch aufgrund von Pornografie. Doch das Gegenteil ist der Fall. „Jugendsexualitätsbefragungen zeigen, dass 97 Prozent der 14-Jährigen noch keinen Sex gehabt haben. Selbst bei den 17-Jährigen sind es nur etwas mehr als 60 Prozent“, erklärt er. „Jugendliche sind heute sehr verantwortungsbewusst, verhüten sehr gut und beschäftigen sich viel mehr mit ihrer Sexualität als noch vor 20 oder 30 Jahren.“ Die Befragung zeigt jedoch auch, dass Jugendliche noch immer viele Fragen haben, da das Thema in Schulen nicht ausreichend besprochen wird.
Sowohl das ehemalige Camgirl als auch der Sexualpädagoge sind sich einig: Es braucht eine altersgerechte und sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema – zu Hause und in der Schule. Die Frage, die sich Eltern und Pädagogen demnach stellen müssen, lautet nicht, wie man Kinder und Jugendliche vor dem Konsum von Pornografie schützen kann, sondern wie man sie dabei gut begleitet.