Das Bundesfamilienministerium stoppt den „Fonds Sexueller Missbrauch“. Betroffene fühlen sich alleingelassen und fragen sich, woher sie zukünftig Hilfe für den Alltag bekommen.
Grundsätzlich stehen Opfern von Gewalttaten, wie sexuellem Missbrauch, durch das „Soziale Entschädigungsrecht“ (bis 2023 Opferentschädigungsgesetz) Hilfen zu. Doch diesen Anspruch durchzusetzen, dauert meist viele Jahre, ist oft wenig erfolgversprechend und potenziell retraumatisierend. Aus diesem Grund wurde 2013 der „Fonds Sexueller Missbrauch“ (FSM) speziell für Überlebende sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend ins Leben gerufen. Nun wurde genau dieser kurzfristig gestrichen. Für zehntausende Betroffene eine Katastrophe.
„Fonds Sexueller Missbrauch“: für viele Betroffene lebenswichtig
Ursprünglich war der FSM vor allem dafür gedacht, Psychotherapien zu bezahlen, für die Krankenkassen nicht oder nicht mehr aufkamen. Im Laufe der Zeit wurden auch zahlreiche andere Leistungen übernommen, wie zum Beispiel die Anschaffung und Versorgung eines Assistenzhundes, berufliche Weiterbildungen oder Massagen, die dabei helfen sollen, wieder ein besseres Körpergefühl zu bekommen. „Ich kenne unzählige Menschen, deren Lebenssituation sich durch den Fonds extrem verbessert hat“, sagt Tatjana Belmar, Vorsitzende des Vereins „Kein Einzelfall“ in Hamburg, der Betroffene von sexualisierter Gewalt berät.
Tatjana Belmar hat den Verein „Kein Einzelfall“ gegründet, der Opfer von sexuellem Missbrauch unterstützt und berät
© Broeg
Doch damit ist es nun vorbei. Im März verschickte das für die Auszahlung der Fondsgelder zuständige Amt Schreiben an alle Hilfeempfänger. Darin verkündete es zwei einschneidende Veränderungen. Nur noch bis Ende 2028 können Gelder aus dem FSM fließen. Von den insgesamt pro Person möglichen 10.000 Euro dürfen pro Jahr nur noch jeweils maximal 4000 Euro abgerechnet werden. Und, was für viele Betroffene fast noch schlimmer ist: rückwirkend zum Januar 2025 gibt es kein Geld mehr vorab; alle beantragten Leistungen müssen sie erst einmal selbst vorfinanzieren. „Viele können das nur gar nicht. Sie sind aufgrund ihrer Erlebnisse nur eingeschränkt oder gar nicht mehr berufstätig und nicht in der Lage, eben mal Tausende von Euro aus eigener Tasche zu bezahlen“, sagt Tatjana Belmar. So wie Manuela*: „Ich bin Ende 30 und lebe von einer sehr kleinen Rente. Ich habe täglich mit Flashbacks zu kämpfen und weiß nicht, ob ich jemals wieder arbeitsfähig bin. Der Fonds ist, ehrlich gesagt, das Minimum für ein zerstörtes Leben.“
Als der FSM beschlossen wurde, war er auf eine Dauer von drei Jahren angelegt. Entsprechend gering wurde er finanziell ausgestattet. Neben dem Bund hatten nur die Bundesländer Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen eingezahlt, insgesamt rund 62 Millionen Euro. Doch der Fonds lief weit über das Jahr 2016 hinaus.
Mehr als 35.000 Opfer bekamen Hilfe für den Alltag
Auf Nachfrage des stern ermittelte das Bundesfamilienministerium, wie viele Menschen inzwischen Hilfe aus dem Fonds bekommen haben und in welcher Höhe. Bis Ende Juni 2025 hatten etwas mehr als 35.000 Menschen Anträge für Hilfsleistungen gestellt und mehr als 165 Millionen Euro bekommen. Dass die ursprünglichen Mittel längst nicht mehr dem Bedarf entsprachen, war im vergangenen Jahr offenbar auch dem Bundesrechnungshof aufgefallen. Die Millionen-Mehrkosten waren nirgendwo im Bundeshaushalt mehr gedeckt – so konnte es aus Sicht der obersten Finanzbehörde nicht weitergehen.
Seit Bekanntwerden der Einschnitte versuchen viele Betroffene, die zuständige Behörde zu erreichen, um abzuklären, wie es nun in ihrem speziellen Fall weitergehen soll – vergeblich. Seit Wochen veranstaltet Belmar daher laufend Videochats, in denen sie die Fragen der verunsicherten Betroffenen zu beantworten versucht. „Der Fonds ist eine schnelle und akute Soforthilfe, aber er darf nicht zum Tat- und Symptomverstärker werden“, sagt Belmar.
Auch die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, habe in der Angelegenheit keine gute Figur gemacht, klagt die Vereinsvorsitzende: „Warum war sie nicht informiert über das, was im Ministerium lief?“
Im Koalitionsvertrag von Union und SPD gibt es zwar die Absicht, „ein haushaltsrechtskonformes, auf Dauer angelegtes System, das Betroffenen nahtlosen Zugang zu Leistungen und Hilfen ohne hohe Hürden gewährt und ihre besonderen Bedarfe berücksichtigt“, zu schaffen. Aber was passiert bis zu einer Neuregelung? Bundesfamilienministerin Karin Prien kündigte jüngst an, bis Anfang kommenden Jahres eine Nachfolgeregelung für den FSM auf den Weg zu bringen und warb hierfür um Unterstützung durch die Bundestagsabgeordneten. Belmar bleibt skeptisch. „Wir lassen das alte System los, und das neue wird ewig nicht kommen.“
Seit Juni keine neuen Anträge mehr
Diese Sorge teilt sie offenbar mit vielen Betroffenen. Seit Bekanntwerden der Änderungen zum FSM stieg die Zahl der Anträge auf Hilfsleistungen stark an, teilt das Ministerium auf Nachfrage mit. Mitte Juni nun wurde verkündet, das Geld sei endgültig aufgebraucht. Neuanträge, die ab Mitte März gestellt wurden, könnten nicht mehr berücksichtigt werden. Einen Rechtsanspruch auf Leistungen, den die Betroffenen einklagen könnten, gibt es nicht. „Mir hat diese Nachricht den Boden unter den Füßen weggezogen. Der Antrag selbst war eine Qual, und jetzt soll das alles umsonst gewesen sein, weil ich ihn drei Wochen ‚zu spät‘ gestellt habe. Ich weiß gerade nicht, wie es für mich weitergehen soll“, schreibt Antonia* in der Facebook-Gruppe des Vereins „Kein Einzelfall“.
Trotz ihrer Bedenken hofft Vereinsvorsitzende Tatjana Belmar, dass es irgendwie weitergeht mit dem niedrigschwelligen Hilfsangebot, am besten auch für diejenigen, deren Missbrauch erst nach 2013 stattfand. Denn die gehen bislang leer aus. Die Zahl der Betroffenen reicht weit über die bislang Unterstützten hinaus. Laut einer im Mai veröffentlichten Dunkelfeldstudie wurde etwa jeder achte Erwachsene als Minderjähriger Opfer sexualisierter Gewalt; das sind mehrere Millionen Betroffene. Ob diese angesichts klammer Bundeskassen und Milliardenschulden im Bundeshaushalt auf Hilfe hoffen können, bleibt fraglich.
*die Namen wurden anonymisiert