Florian Lipowitz glänzt bei der Tour de France und zeigt, warum er als größtes deutsches Radsport-Talent gilt. Er könnte aufs Podium fahren – wenn sein Team mitspielt.
Fünf Kilometer vor dem Ziel in den französischen Pyrenäen war der Moment gekommen, den viele vorausgesagt hatten. Der deutsche Radprofi Florian Lipowitz hängte in der Verfolgergruppe seinen Kapitän Primoz Roglic ab. Der 35 Jahre alte Slowene hielt beim steilen Anstieg nach Hautacam auf 1560 Meter Höhe nicht mehr mit und fiel zurück.
Ob Lipowitz, 24 Jahre alt, in diesem Moment ein Kommando seines Teams Red-Bull-bora-hansgrohe erhielt oder sich in Eigenregie dazu entschied, die Helferrolle abzulegen und Roglic stehenzulassen, ist nicht überliefert. Doch jeder sah es: Es war eine Wachablösung. Aus dem Helfer wurde der Anführer. Lipowitz zeigte, dass er der stärkere Fahrer ist. Als Dritter überquerte er die Ziellinie, nur 13 Sekunden hinter dem Dänen Jonas Vingegaard. Seine Gesichtszüge vor Erschöpfung verzerrt, aber mit der Gewissheit, dass er beim größten Radrennen der Welt mit Größen wie Vingegaard oder Tagessieger Tadej Pogacar mithält.
Im Gesamtklassement kletterte Lipowitz auf den vierten Rang. Sein Rückstand auf den Belgier Remco Evenpoel auf Platz drei beträgt nur 49 Sekunden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Deutsche auf den nächsten Bergetappen am zweifachen Olympiasieger und Zeitfahr-Weltmeister vorbeizieht. Der letzte Deutsche, der es bei der Frankreich-Rundfahrt unter die ersten Drei schaffte, war Andreas Klöden im Jahr 2006 – lange ist es her.
Florian Lipowitz: Vom Biathlon auf das Rad umgesattelt
Frühere Weggefährten überrascht Lipowitz‘ Leistung nicht. Als Spross einer sportlich hochambitionierten Familie war er schon als Kind und Jugendlicher ständig auf dem Rad unterwegs. Im Urlaub fuhr er mit Vater Marc, Mutter Evelyn und Bruder Philipp quer durch die Alpen und in den Pyrenäen: An sieben Tagen spulten sie einmal 900 Kilometer mit 18.000 Höhenmetern ab – damals war Lipowitz 17 Jahre alt.
Sein Ausdauertalent zeigte sich jedoch vor allem in der Loipe. Wie Bruder Philipp galt Lipowitz als Nachwuchshoffnung im Biathlon. Für die Sportart zogen er und seine Familie 2015 aus dem schwäbischen Laichingen nach Seefeld in Tirol, damit er dort aufs Sport-Internat gehen konnte.
Doch während die Biathlon-Karriere von Lipowitz‘ ein Jahr älterem Bruder 2021 im Gewinn des Junioren-Weltmeistertitels gipfelte, plagten den jüngeren Bruder häufig Verletzungen. Mal hinderte ihn eine entzündete Wachstumsfuge im Knie am Sport, dann sorgte ein Kreuzbandriss dafür, dass er nur auf dem Rad trainieren konnte. Schon damals kam Lipowitz so auf tausende Jahreskilometer im Sattel. Und er merkte immer deutlicher, dass er Talent hat. Sein Ehrgeiz war geweckt.
Teamchef: „Man hat gemerkt: Der will“
Das häufigere Umsteigen auf das Fahrrad lohnte sich. Bei Radmarathons, anspruchsvollen Amateurrennen, hielt Lipowitz immer länger mit den besten, wesentlich älteren Konkurrenten mit. Es folgten erste Siege – und 2020 der erste Profi-Vertrag bei einem österreichischen Kontinentalteam. Dass er dort – ohne jemals ein Lizenz-Rennen gefahren zu sein – angestellt wurde, lag auch an den Ergebnissen eines Leistungstests, den er beim Radsport- und Triathlon-Trainer Dan Lorang absolvierte und der überdurchschnittlich gut ausfiel. Die Werte sprachen für ein gewaltiges Potenzial. Lorang ist heute Cheftrainer des Red-Bull-Teams.
Radprofi Florian Lipowitz vor der 6. Etappe in Normandie
© Sirotti Stefano
Obwohl für Lipowitz in seinem österreichischen Team größere Siege ausblieben, nahm ihn Red Bull 2023 in den Kader auf. Den ersten Kontakt hatten Teamchef Ralph Denk und Lipowitz bereits 2020. Eine Anekdote zu seinem Vorstellungsgespräch sagt viel über den jungen Athleten aus: Lipowitz fuhr die 100 Kilometer zur Teamzentrale mit dem Rad, erinnerte sich Denk in einem Beitrag der „Sportschau“. Als er Lipowitz später fragte, wie er denn später zurückkomme, und ob er abgeholt werde, habe der geantwortet, auch den Rückweg auf dem Rad zu bestreiten. „Das war für mich eine beeindruckende Begegnung“, sagte Denk. „Man hat gemerkt: Der will.“
Jetzt steht Lipowitz endgültig davor, in den elitären Kreis der Spitzenfahrer aufzusteigen. „Er ist sehr stark und ein toller Fahrer. Er hat noch Raum für Verbesserungen. Ich denke, wir werden noch viel von ihm in den nächsten Tagen und Jahren sehen“, sagte ein beeindruckter Pogacar nach der Hautacam-Etappe. Pogacar wird genau registriert haben, dass Lipowitz ab dem Zeitpunkt der Attacke kaum Zeit auf ihn, den Tagessieger und großen Dominator der Tour, verlor.
Das Podium der Tour de France könnte am Ende so aussehen wie das Podium beim Critérium du Dauphiné im Juni: Jonas Vingegaard, Tadej Pogacar und Florian Lipowitz (r.)
© Stefano Cavasino
Hierarchie im Team ist durcheinander gewirbelt
Lipowitz bedeutet – noch – keine Gefahr für Pogacar, der in diesem Jahr in einer eigenen Liga fährt. Dennoch könnte sich am Ende in Paris ein Bild wie bei der Dauphiné im Juni ergeben, einem Vorbereitungsrennen auf die Tour de France. Da thronte Lipowitz (als Dritter) neben Pogacar (Sieger) und Vingegaard (Zweiter) auf dem Treppchen.
Für Lipowitz wird es jetzt darauf ankommen, wie die Mannschaft auf die Machtverschiebung reagiert. Nach Außen gibt man sich bei Red Bull gelassen. „Wir sind ein Team, wir müssen das jetzt in Ruhe besprechen. Wir machen dann einen Plan für die nächsten Tage, sagte Lipowitz der ARD. Sein Chef Ralph Denk gab zu, dass Lipowitz „wahrscheinlich der Bessere“ ist. „Am Anfang haben sie gut zusammengearbeitet. Ziel war das Podium, das ist zumindest mal realistisch.“
Vermutlich wird das Team jetzt für den 24-Jährigen fahren, wenn Roglic sich fügt. Von dem Slowenen sind bislang keine divenhaften oder egomanischen Züge bekannt. Vielleicht läuft hier eine Wachablösung ganz friedlich ab.
Quellen: DPA, „Sportschau„, „Tour Magazin„, „Rennrad„, „Radsportaktuell„