Exklusiv : Fall Stefan Gelbhaar: Grüne legen Bericht vor – und räumen Fehler ein

Die Grünen haben die Aufarbeitung im Fall Stefan Gelbhaar abgeschlossen. Fazit: Es wurden Fehler gemacht – und es braucht neue Strukturen.

Es ist und bleibt ein vertrackter Fall für die Grünen. Die Partei hat die Aufarbeitung der mutmaßlichen MeToo-Affäre um ihren ehemaligen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar abgeschlossen – mit dem Ergebnis, dass das Ombudsverfahren nicht fortgesetzt wird und dem Eingeständnis, dass es keine endgültige Klärung in der Sache geben kann. Das ergibt sich aus einem Bericht der von der Partei eingesetzten Kommission, die die Vorfälle untersuchen sollte, und einer begleitenden Einordnung des Parteivorstands. Beide Dokumente, die die Grünen am Donnerstag veröffentlichen wollen, lagen dem stern vorab vor.

Die Grünen räumen darin Fehler ein. Ein Ombudsverfahren habe nie den Anspruch erfüllen können, eine finale Einordnung der Meldungen und ihres Wahrheitsgehaltes vorzunehmen, heißt es in dem Bericht des Bundesvorstands. „Dieser unerfüllbaren Erwartung an das Ombudsverfahren hätten wir frühzeitiger und klarer entgegentreten müssen und die Grenzen des bestehenden Verfahrens zur Lösung des Konflikts in dieser Situation erkennen müssen.“

Nachdem im Dezember, im anlaufenden Bundestagswahlkampf, Vorwürfe gegen Gelbhaar geäußert worden waren, zunächst intern, später auch öffentlich über Medienberichte, kandidierte Gelbhaar nicht mehr um einen Listenplatz für die Bundestagswahl. Bei einer Wiederholungswahl für das Direktmandat stellte ihn sein Kreisverband nicht mehr auf – später fielen die schwersten Vorwürfe strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens in sich zusammen, weil sie offenkundig gefälscht waren. 

Im Fall Gelbhaar sei man allen Beteiligten „nicht gerecht“ geworden

Rund ein halbes Jahr haben sich die Grünen Zeit gelassen, die Vorgänge zu klären. Man wisse, „dass viele den Bericht gerne schneller gehabt hätten und dass die zurückliegenden Monate für alle Beteiligten belastend waren“, sagte die Parteivorsitzende Franziska Brantner dem stern. „Wir haben uns aber die Zeit genommen, die so ein komplexer Fall erfordert.“

Tatsächlich ist der Fall kompliziert. Dazu gehört auch, dass die Grünen nun einräumen müssen, dass die Ombudsstelle, eine Anlaufstelle zur vertraulichen, innerparteilichen Konfliktlösung, „schon vor ihrer Einschaltung ungewollt zum Objekt möglicher politischer Instrumentalisierung“ geworden sei. Denn nachdem die Bezirkspolitikerin Shirin Kreße in einem Treffen des Berliner linken Flügels behauptet hatte, mehrere Frauen hätten ihr von sexueller Belästigung durch Stefan Gelbhaar berichtet, wies die Sitzungsleitung auf die Ombudsstelle der Bundespartei hin. Damit sei unter anderem, wenn auch ungewollt, der Eindruck vermittelt worden: „Wer Einfluss auf die Listenaufstellung zulasten von Stefan Gelbhaar nehmen wolle, müsse sich an die Ombudsstelle wenden“, so der Bundesvorstand.  

Schlussendlich sei die Organisation „ihrer Verantwortung gegenüber allen Beteiligten nicht gerecht geworden“, heißt es im Bericht des Bundesvorstands. Sie sei in diesem Fall, in dem viele Faktoren zusammenkamen – zeitlicher Druck vor der Bundestagswahl, falsche Medienberichterstattung, fehlende Vertraulichkeit des Verfahrens – “strukturell überfordert“ gewesen. Leidtragende seien Stefan Gelbhaar, ebenso die Personen, die Meldungen vorbrachten, „denen nach Aufdeckung der falschen Identität einer anderen Meldung zunächst nicht ausreichend Vertrauen in ihre Schilderungen geschenkt wurde“, betonen die Grünen. 

Keine „eindeutige und finale Klärung“

Wurde Stefan Gelbhaar zu Unrecht um seine Bundestagskandidatur gebracht? Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt die Partei nicht. Der Bundesvorstand könne und wolle „dem Wunsch nach einer eindeutigen und finalen Klärung im Sinne einer Rehabilitation oder Sanktionen nicht gerecht werden“, heißt es in dem Bericht des Vorstands.  

Die geschilderten Erfahrungen berührten „Fragen des gleichberechtigten Miteinanders, des Respekts vor den Grenzen anderer, die Reflexion von aus politischen Positionen erwachsenden Machtverhältnissen“. Dazu müsse sich eine Organisation verhalten, das könne weder eine Ombudsstelle noch eine Kommission, und auch kein Vorstand stellvertretend für die ganze Partei leisten. „Die Entscheidung über Personalaufstellungen obliegt immer den jeweiligen Wahlversammlungen.“

In der Konsequenz heißt das: Will der Verkehrspolitiker, der in der vergangenen Legislatur im Bundestag saß, früher schon Landeschef der Berliner Grünen war, weiter politische Ambitionen verfolgen, läge es an seinem Kreisverband in Pankow oder dem Berliner Landesverband, ihn aufzustellen. Ob es nach dieser Vorgeschichte noch einmal dazu kommt, ist offen.  

Dass sich der Bundesvorstand nicht eindeutig auf eine Seite schlagen will, ergibt sich auch aus den Erkenntnissen der Kommission: Demnach betreffen die meisten der gegen Gelbhaar vorliegenden Meldungen „kein strafrechtlich relevantes Verhalten“, sondern „Wahrnehmungen von so empfundenen Grenzverletzungen“. Auch war nach der Auffassung der Kommission mit einigen der Meldungen das Ziel verbunden, eine Kandidatur von Gelbhaar bei der anstehenden Bundestagswahl zu verhindern – und nicht, in einem Ombudsverfahren eine vertrauliche Klärung zwischen den betroffenen Parteien zu erreichen. Die Kommission schreibt die Meldungen mit diesem Ansinnen der Berliner Grünen Jugend oder deren Umfeld zu. 

Gleichzeitig erkennt die Kommission an, dass es im Berliner Landesverband „offenkundig etliche Frauen“ gebe, „die sich vom möglicherweise übergriffigen, aber nicht strafrechtlich relevanten Verhalten“ Gelbhaars tangiert fühlten. Der Bundesvorstand betont, dass sich sowohl gegenüber der Ombudsstelle als auch der Kommission Frauen „aus beiden Flügeln, mit und ohne Bezug zur Grünen Jugend – gemeldet“ hätten und „von Erfahrungen und Beobachtungen berichtet, die nicht strafrechtlich relevant sind, aber als grenzverletzend, unangemessen oder übergriffig wahrgenommen wurden“.

Grüne wollen Strukturen neu aufsetzen – und ziehen bitteres Fazit

Die Grünen folgen der Empfehlung der Kommission, im Fall Gelbhaar das Ombudsverfahren nicht fortzusetzen. Laut der Kommission leide das bisherige Verfahren „an fehlender innerparteilicher Legitimität, an fehlenden Vertrauensstrukturen und einer fehlenden Verfahrensordnung sowie an erheblichen rechtsstaatlichen Defiziten und Definitionsmängeln“. Der Bundesvorstand betont, in der Mehrzahl erwarteten die meldenden Frauen keine Fortsetzung des Ombudsverfahrens – jedoch eine „Anerkennung ihres Erlebens“. Ob den betroffenen Frauen dafür der Bericht des Bundesvorstands ausreicht, scheint offen bis fraglich.

Für künftige Fälle jedenfalls wollen die Grünen die Strukturen neu aufsetzen. Darum soll sich eine Arbeitsgruppe kümmern. Handlungsleitend sollen dabei sowohl „Rechtsstaatlichkeit, demokratische Legitimation als auch feministische Anforderungen, um der Perspektive Betroffener gerecht zu werden“ sein. Auf dem Parteitag im November soll die neue Struktur in der Satzung verankert werden.  

„Das Spannungsfeld zwischen dem Schutz von Betroffenen und der Wahrung rechtsstaatlicher Standards ist nicht leicht und vor allem nicht einseitig aufzulösen“, sagte der Parteivorsitzende Felix Banaszak dem stern. „Dafür braucht es klar verankerte Verfahren und Ressourcen.“ Deshalb sei man Anne Lütkes und Jerzy Montag für die geleistete Arbeit als Leitende der Kommission und die Empfehlungen zur zukünftigen Aufstellung der Ombudsstrukturen sehr dankbar.

Jede Organisation sehe „sich mit Grenzverletzungen und der Frage nach dem richtigen Umgang damit konfrontiert, so auch unsere“, so Banaszak weiter. Man wolle eine Partei sein, in der eine „Kultur der Wertschätzung und des Respekts vor den Grenzen anderer“ herrsche.

Die Grünen ziehen aus dem Fall Gelbhaar ein bitteres Fazit für alle kommenden MeToo-Debatten. “Die Hürden – insbesondere für Frauen –, solches Verhalten zu melden, anzuzeigen oder in einer Organisation zu thematisieren, sind auch dadurch deutlich gestiegen“, heißt es in dem Bericht. So sei nicht nur für die in diesem Verfahren beteiligten Personen, sondern „für das Anliegen eines angemessenen Umgangs mit Grenzverletzungen allgemein großer Schaden entstanden“.