Ein Papier von prominenten SPD-Linken versetzt die Genossen in Unruhe – und das kurz vor dem Parteitag. So kommentiert die Presse in Deutschland die Forderungen.
In dem am Mittwoch bekannt gewordenen Papier fordern prominente SPD-Politiker wie Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans, der frühere Fraktionschef Rolf Mützenich und der Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner von der schwarz-roten Bundesregierung eine grundlegende Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sie fordern unter anderem Gespräche mit Russland und einen Stopp der Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland.
Kritik üben die Verfasser zudem an der geplanten massiven Aufstockung der Verteidigungsausgaben. Für das Nato-Ziel, die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsstaaten auf fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zu erhöhen, gebe es „keine sicherheitspolitische Begründung“.
So kommentiert die Presse das SPD-Manifest
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „In einem ‚Manifest‘ fordern die SPD-Friedenskreise von der Bundesregierung – und damit auch der eigenen Parteiführung – eine Kehrtwende in der Verteidigungspolitik, die sie für unbegründet, gefährlich, ja „irrational“ halten. (…) Schon jetzt signalisiert dieses Papier Putin, dass seine Zermürbungsstrategie Früchte trägt. Die SPD-Führung, die mit dem Manifest massiv angegriffen wird, muss spätestens auf dem Parteitag klarmachen, dass die SPD nicht vom mit der Union eingeschlagenen Kurs abweicht. Einem Satz des Papiers könnten die Genossen aber zustimmen – dass man nicht die Lehren aus der Geschichte vergessen dürfe. Das Manifest gibt vor, einige von ihnen zu beherzigen. Eine der wichtigsten Lektionen aber ignoriert es: Mit Appeasement öffnet man, um ein Wort Mützenichs aufzugreifen, das Tor zur Hölle.“
„Die Glocke“: „Es ist eine Forderung, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Schon die Bezeichnung ‚Manifest‘ klingt wie aus einem vergangenen Jahrhundert. (…) Was für eine absurde, weltfremde und verantwortungslose Vorstellung angesichts eines furchtbaren Angriffskrieges, der seit mehr als drei Jahren in der Ukraine tobt und die Einwohner zu tausenden das Leben kostet. (…) Der russische Diktator hat zum Ziel die Unterwerfung, nicht Partnerschaft und Dialog. Wunschdenken und naive Friedensbereitschaft nutzt er gnadenlos aus. Glücklicherweise repräsentieren die Unterzeichner des Papiers nur einen kleinen Teil der SPD. Es ist eine Generation, die sich über Jahrzehnte der Illusion eines freundlichen Russlands hingegeben hat und sich diese Lebenslüge heute nicht mehr eingestehen kann.“
„Frankfurter Neue Presse“: „Innenpolitisch ist die Wirkung verheerend, weil schon kurz nach Antritt der schwarz-roten Bundesregierung gemeinsame Ziele infrage gestellt werden. Und wie schwierig die außenpolitische Ausgangslage ist, scheint den SPD-Politikern um Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich nicht klar zu sein. Dass Verhandlungen mit Russland ergebnislos bleiben und Präsident Wladimir Putin nicht zu Konzessionen bereit ist, haben bereits viele Vermittlungsversuche gezeigt, gerade erst die Vorstöße von USA und Europäern. Wer dennoch behauptet, eine Entspannung mit Russland sei möglich, ist offenbar anfällig für russische Beeinflussung. Und er sendet ein Signal der Zerstrittenheit und Schwäche nach Moskau.“
Putin wäre „der richtige Adressat für dieses Papier gewesen“
„Südkurier“: „Dass es in der SPD grundverschiedene Ansichten zum Umgang mit Russland gibt, ist nichts Neues. Das Problem dabei ist aber nicht die Kritik, die die Rebellen um Rolf Mützenich und Ralf Stegner an ihrer Partei und der Bundesregierung äußern, sondern dass sie dabei Richtiges und Falsches zusammenwerfen. Es ist ja durchaus angebracht, über die Sinnhaftigkeit von Nato-Aufrüstungszielen zu debattieren, die sich in astronomischen Höhen bewegen. Und es ist ebenfalls wichtig, über die Zeit nach einem Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland nachzudenken. Falsch ist jedoch die ständig wiederholte Behauptung, die diplomatischen Bemühungen würden am fehlenden Friedenswillen des Westens scheitern. Dass es diesen Krieg überhaupt gibt, dass er mit dieser Brutalität auch gegen die ukrainische Zivilbevölkerung geführt wird, dass die Verhandlungen zu dessen Beendigung nicht vom Fleck kommen, ist die Schuld von Wladimir Putin. Er wäre der richtige Adressat für dieses Papier gewesen.“
„Rhein-Zeitung“: „Wortreich erinnert das Papier an Meilensteine der Ost-West-Annäherung in den 70er- und 80er-Jahren. Doch anders als im Kalten Krieg tobt in der Ukraine ein heißer Krieg in Europa, der allein durch Russlands Präsident Wladimir Putin ausgelöst wurde. Und seit drei Jahren beweist Putin ein ums andere Mal, dass er kein Interesse an Frieden hat, bis die Ukraine kapituliert und sich den aggressiven, völkerrechtswidrigen Bedingungen Russlands beugt. Das hat nichts mit der Situation im Kalten Krieg gemein.“
„Die Rheinpfalz“: „Das ‚Manifest‘ einiger SPD-Politiker ist ein legitimer Versuch, die festgefahrene Situation in den Beziehungen zwischen Deutschland, Europa und Russland zu überwinden. Die Unterzeichner blenden allerdings zwei Dinge aus: Die wiederholte Ablehnung ernsthafter diplomatischer Initiativen durch Russland und die tatsächliche Bedrohungslage für Europa. Der Kreml bemüht sich inzwischen nicht mal mehr, seine imperialen Eroberungsfantasien zu verheimlichen, die weit über das Gebiet der Ukraine hinausgehen. Solange dies die neue sicherheitspolitische Realität in Europa ist, führt neben diplomatischen Bemühungen kein Weg an einer militärischen Abschreckung vorbei.“
„Stuttgarter Nachrichten“: „Die Fehlschlüsse der Unterzeichner sind gravierend. Putin hat gezeigt, dass er nur die Sprache der Stärke versteht. Wer die in der Nato anvisierten Verteidigungsausgaben für zu hoch hält, irrt gewaltig. Nur durch Abschreckung besteht überhaupt eine Chance, dass Putin seine Grenzen erkennt. Deshalb würde auch der geforderte Verzicht auf neue US-Mittelstreckenraketen in Deutschland der Sicherheit des Landes schwer schaden. Die Tagträumer Mützenich und Stegner haben weder in der Regierung etwas zu sagen, noch prägen sie den Kurs ihrer Partei. Es ist der Job von Parteichef Lars Klingbeil in- und außerhalb der SPD hundertprozentig klarzustellen, dass es so bleibt.“
„Weser-Kurier“: „Eine Lösung auf Basis der russischen Forderungen wird zudem weitere Kriege in Europa nicht verhindern, sondern eher wahrscheinlicher machen. Moldau und das Baltikum gelten schon jetzt als mögliche Ziele. Daher können die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien nicht anders als mit dem Dreiklang weiterzumachen – aus Aufrüstung und Abschreckung, aus der Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland und als Drittes aus diplomatischen Initiativen. Solange, bis Putin wirtschaftlich oder militärisch die Luft auszugehen droht und er bereit ist, tatsächlich Kompromisse einzugehen. Daher sind die Forderungen im Manifest, Deutschland möge auf die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen verzichten und auf eine Stärkung seiner eigenen Verteidigungsfähigkeit verzichten, von erschreckender Naivität. Dass es für eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts ‚keine sicherheitspolitische Begründung‘ geben soll, zeigt, dass die Unterzeichner angesichts der tatsächlichen Bedrohungslage in Europa lediglich gewillt sind, den Kopf in den Sand zu stecken.“
„Kölner Stadt-Anzeiger“: „Es wäre zu einfach, Rolf Mützenich und seine Mitstreiter zur Seite zu schieben als Unbelehrbare, als Illusionäre, als friedensbewegte Spinner. Es wäre zu plump, sie als Putin-Versteher zu diskreditieren. Klar, das sogenannte Manifest bietet dafür Anknüpfungspunkte. Das fängt bei der Aufrechnung von Ausgaben für Klimaschutz und Sicherheitspolitik an. Und der Appell an Russland fehlt. Dennoch: Zur Seite schieben kann und sollte die SPD-Führung dieses Papier nicht, auch wenn sich unter seinen Unterzeichnern vor allem Ex-Führungspersonen finden. Wenn die SPD ihren Abwärtstrend stoppen will, muss sie auch diesen Teil der Partei – und auch der Bevölkerung – ernst- und mitnehmen.“