Partei-Erneuerung: Die SPD sucht den Booster-Knopf

Die Genossen wollen sich neu aufstellen. Aber wie? Der frühere SPD-Parteichef Norbert Walter-Borjans mahnt: Die Arbeiter müssten wieder ins Zentrum der Programmatik rücken.

Norbert Walter-Borjans hat gerade ein paar Steine geklopft, wie er am Telefon sagt. Der frühere SPD-Parteivorsitzende ist Hobby-Bildhauer aus Leidenschaft, schon rund 25 Jahre lang, und er weiß, dass Geduld, Ausdauer und Akribie für ein formvollendetes Gesamtkunstwerk notwendig sind.

Das Bild, das seine SPD derzeit abgibt, erscheint konturlos und unscharf. Die deutsche Sozialdemokratie sei mehr „Funktionärsapparat“ denn Bewegungspartei, werde „heute vielfach als Partei der Spiegelstriche“ wahrgenommen. Zu diesem Schluss kommt eine parteiinterne Kommission, die erste Lehren aus der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl gezogen hat. Sie schlägt ein „Zukunftsprogramm 2040“ vor, sozusagen ein neues Big Picture der SPD. 

Auch Norbert Walter-Borjans, 72, sieht Handlungsbedarf. „Ich kann einer breit angelegten Diskussion über ein neues SPD-Grundsatzprogramm viel abgewinnen“, sagt der frühere Parteivorsitzende (2019 bis 2021) dem stern. „Die SPD darf nicht nur ein Nahrungsergänzungsmittel für konservative Politik sein.“ Die Sozialdemokraten müssen in der schwarz-roten Koalition eine eigene und erkennbare Stimme haben, soll das wohl heißen.

In der SPD ist längst eine Debatte um eine inhaltliche Neuausrichtung angelaufen, die Rufe nach einer schonungslosen Aufarbeitung des desolaten Wahlergebnisses von 16,4 Prozent werden immer lauter. 

Der SPD-Spitze stehen damit potenziell turbulente Zeiten ins Willy-Brandt-Haus. Beim vorgezogenen Parteitag Ende Juni könnte sich der angestaute Frust ein Ventil suchen. Ein neues Grundsatzprogramm wollen jetzt viele Genossen. Aber kann das gutgehen: Alte Gewissheiten über Bord werfen, ohne sich dabei selbst zu zerlegen? 

Die SPD sucht nach Orientierung

Die CDU hatte mehr als zwei Jahre an ihrem neuen Grundsatzprogramm gefeilt, teils hitzig um Formulierungen gestritten. Als Partei dürfe man sich in einer Grundsatz-Diskussion nicht verlieren, mahnte Rolf Mützenich kürzlich im Interview mit dem stern. „Aber nur zu regieren, ist zu wenig.“ Der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende hat Zweifel, ob das aktuelle SPD-Grundsatzprogramm „noch auf der Höhe der Zeit“ sei. Auch der neue SPD-Fraktionsvize Armand Zorn forderte eine Grundsatzdiskussion darüber, „wie wir Arbeit im 21. Jahrhundert verstehen“. 

Das letzte Grundsatzprogramm der SPD wurde im Oktober 2007 verabschiedet. Als Künstliche Intelligenz noch Zukunftsmusik war, Rechtspopulisten noch nicht in den Parlamenten saßen oder hybride Arbeitsmodelle geradezu exotisch anmuteten. „Ich weiß nicht, ob das Wort Digitalisierung darin überhaupt vorkommt“, sagte Stephan Weil, der ehemalige Ministerpräsident von Niedersachsen, im März mit Blick auf das „Hamburger Programm“ von 2007. Tatsächlich taucht das Wort in dem 79-Seiten-Dokument kein einziges Mal auf. 

Auch die Jusos verlangen eine Erneuerung der Partei, die über das Personaltableau hinausgeht. Der SPD-Nachwuchs ist von Natur aus aufmüpfig, scheut keine klaren Worte. Auf den Landesparteitagen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hatten sie insbesondere Parteichef Lars Klingbeil eine Art Selbstbedienungsmentalität vorgeworfen. 

Der frühere Parteichef Norbert Walter-Borjans, Klingbeils Amtsvorgänger, kennt Profildebatten. Er wurde 2019 mit Saskia Esken, die beim Parteitag nicht erneut für den Vorsitz kandidiert, an die erste Doppelspitze der SPD gewählt. Damals war die Partei in Aufruhr, weil sie die politischen Begebenheiten erneut in eine schwarz-rote Koalition gedrängt hatten – obwohl ihr das ungeliebte Bündnis bei der vorausgegangenen Wahl einen historischen Tiefstwert von 20,5 Prozent beschert hatte. Es brauchte eine neue, überwölbende Erzählung, auch zur Selbstvergewisserung. 

Walter-Borjans und Esken riefen die „Programmwerkstatt“ ins Leben. Es entstand das „Zukunftsprogramm“. Walter-Borjans und Esken hatten viel Wert auf Lesbarkeit gelegt: Der Text, der zunächst in der Programmkommission mit vielen Beiträgen der Parteibasis entstanden ist, wurde von einem externen Texter in einfache, verständliche Sprache übersetzt. Dann erst wurde die Endfassung formuliert. 

„Charakter als Partei der Arbeit abhandengekommen“ 

„Die erfolgreichste Zeit hatte die SPD, als die Arbeiter wussten, dass die Partei für sie da ist“, sagt Walter-Borjans, und auch eine breite Gesellschaftsschicht erkannt habe, dass es eine starke sozialdemokratische Kraft im Land brauche. Die sich etwa für die Umwelt, Kultur und Frieden gleichermaßen einsetze. „Wie bekommt man diese Themen wieder miteinander versöhnt und heraus aus einem zunehmend intellektuellen Bereich?“ Das sei der Stoff, aus dem man eine Programmdiskussion anstoßen könnte. Wichtig dabei sei jedoch, dass am Ende nicht nur ein Leitantrag herauskomme, der wieder in der Schublade verschwinde.

Dass es eine grundsätzliche Debatte um das Profil der SPD braucht, steht nach der verlorenen Bundestagswahl außer Frage. Die selbsternannte Arbeiterpartei ist keine mehr, jedenfalls nicht in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler. Das einstige Kernklientel lief zu AfD und Linkspartei über. „Uns ist der Charakter als Partei der Arbeit abhandengekommen“, räumte Parteichef Klingbeil ein. Rolf Mützenich, der frühere Fraktionschef, brachte das Problem auf diese Formel: „Wir sind in einer Sandwich-Position: Wir verlieren an Linke und an die AfD.“ Das sei gefährlich, darauf brauche es Antworten. 

Diese Antworten soll unter anderem die von der Parteiführung eingesetzte Arbeitsgruppe erarbeiten. Einleiten muss den programmatischen Neustart freilich die SPD-Spitze. Vor allem Klingbeil muss sich daran messen lassen. Er hat seine Macht seit der Wahlniederlage massiv ausgebaut, ist nun Vizekanzler und Finanzminister in der schwarz-roten Regierung, will sich auf dem Parteitag erneut zum Co-Vorsitzenden wählen lassen. Bärbel Bas, die neue Arbeitsministerin, will auf Saskia Esken im Amt folgen. 

Bringt die neue Doppelspitze die Kraft auf, die SPD auch inhaltlich neu aufzustellen? Dem Vernehmen nach könnten Parteipräsidium und -vorstand der SPD noch an diesem Montag die ersten Weichen dafür stellen.